Sonntag, 10. März 2013
Über die Wahrheit und die Lehre [Hermann Hesse]
„Ach, wenn man doch wissend werden könnte!“ rief Knecht. „Wenn es doch eine Lehre gäbe, etwas, woran man glauben kann! Alles widerspricht einander, alles läuft aneinander vorbei, nirgends ist Gewissheit. Alles lässt sich so deuten und lässt sich auch wieder umgekehrt deuten. Man kann die ganze Weltgeschichte als Entwicklung und Fortschritt auslegen und kann ebensowohl nichts als Verfall und Unsinn in ihr sehen. Gib es denn keine Wahrheit? Gibt es keine echte und gültige Lehre?“
Der Meister hatte ihn noch nie so heftig reden hören. Er ging eine Strecke weiter, dann sagte er: „Es gibt die Wahrheit mein Lieber! Aber die 'Lehre', die du begehrst, die absolute, vollkommen und allein weise machende, die gibt es nicht. Du sollst dich auch gar nicht nach einer vollkommenen Lehre sehnen, Freund, sondern nach Vervollkommung deiner selbst. Die Gottheit ist in dir, nicht in den Begriffen und Büchern. Die Wahrheit wird gelebt, nicht doziert. Mache dich auf Kämpfe gefasst, Joseph Knecht, ich sehe wohl, sie haben schon begonnen.“

Hermann Hesse, das Glasperlenspiel, S.85 f, ISBN: 3-518-39072-4

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